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Schweiz
27.11.2023

Leben mit Long Covid – zwei Betroffene erzählen

Long­-Covid-­Betroffene kämpfen mit schweren Symptomen.
Long­-Covid-­Betroffene kämpfen mit schweren Symptomen. Bild: AdobeStock
Der Alltag nach der Covid-­Pandemie hat uns wieder. Doch längst nicht allen geht es nach einer Covid-­Erkrankung gut. Zwei Long­-Covid-­Betroffene aus Gossau erzählen, wie sich ihr Leben mit der Diagnose «Post Covid» gestaltet. Und das ist alles andere als einfach.

Für viele war Covid nicht mehr als eine Grippe. Ebenso viele erachten die Pandemie als eine von Politik und Medien aufgebauschte Sache, als Hysterie. Für jene Menschen, die nach einer Ansteckung schwer an Long Covid erkrankt sind und bis heute mit den Folgen kämpfen, ist das blanker Hohn.

Keine Randgruppe

Es gibt in der Schweiz keine verlässlichen Zahlen über die diagnostizierten Long­-Covid-Fälle. Bis heute gibt es keine Statistik und kein Register. Gemäss statis­tischen Untersuchungen in England geht man von ca. 3,5 % der Bevölkerung aus. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) und die Covid Task Force sprechen mit Stand Januar 2023 von 20 % der infizier­ten Erwachsenen. Die Rede ist mal von 70'000, mal von 100'000, mal von 300'000. Klar ist: Es sind keine Einzelfälle. Zum Vergleich: In der Schweiz leben derzeit 15’200 von Multipler Sklerose (MS) Betroffene.

Was ist Long Covid?

Die WHO spricht von einer Post­ Covid-­19-Erkrankung, wenn drei Hauptfaktoren gegeben sind: Wenn drei Monate nach einer be­stätigten oder wahrscheinlichen Ansteckung mit dem Coronavirus Symptome bestehen, wenn die Symptome seit mindestens zwei Monaten andauern und wenn diese nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können.

Massive Folgen

Die meisten Symptome einer Post­ Covid­-19-Erkrankung beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit im Alltag. Die häufigsten Symptome sind gemäss BAG: starke Müdigkeit, Erschöpfung und Belastungsintoleranz, Kurzatmigkeit, Atembeschwerden sowie Konzentrations-­ und Gedächtnisprobleme. Daneben können weitere Symptome auftreten wie zum Beispiel Kopfschmerzen, Husten, Verlust von Geruchs­ und Geschmackssinn, Schlaf­- und Angststörungen, Muskelermüdung, Muskelschmer­zen, Schmerzen in der Brust sowie Hautausschläge.

Die unsichtbare Krankheit mit vielen Gesichtern

Viele der erwähnten Symptome schildern auch zwei betroffene Frauen aus Gossau, und es wird klar: Long Covid ist eine unbe­rechenbare Krankheit mit vielen Gesichtern bzw. Symptomen.

Patrizia* war 52, als sie zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 an Covid erkrankte. Bis da eine gesunde Frau. Raucht nicht, ernährt sich gesund, war sportlich aktiv. Voll im Berufsleben. Der Verlauf war zunächst milde. «Ich hatte ein biss­chen Halsschmerzen und war sehr müde.» Eine Woche später kamen schwere Atemprobleme hinzu, die sich trotz Behandlung zu einer schweren Lungenentzündung und zu einem dauerhaften Asthma entwickelten.

Die heute 51­-jährige Mirjam* erkrankte im Frühling 2022, also gegen Ende der Pandemie. Die als Risikopatientin eingestufte Frau liess sich mehrfach impfen. Auch bei ihr fing es mit Grippesymptomen an, dazu starke Gelenkschmerzen. Nach einer Woche begannen ebenfalls schwere Atemprobleme. Mirjam leidet seit ihrer Kindheit unter Asthma, seit 26 Jahren ist sie chronische Schmerzpatientin.

«Ameisen im Kopf»

Nebst den Atemproblemen kämpft Patrizia seit der Erkrankung mit kognitiven Beschwerden wie Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit und Orientierungsschwierigkeiten, mit Körper- und Nervenschmerzen sowie mit massiven Erschöpfungszuständen, welche ihr ein normales Leben verunmöglichen.

Patrizia beschreibt den «Brain Fog» mit Ameisen im Kopf, die sie nicht klar denken lassen. Ein Buch lesen sei für sie unmög­lich geworden, Radio hören oder fernsehen geht nur noch sehr do­siert und nur an guten Tagen. Länger als 10 Minuten kann sie nicht auf den Beinen stehen. Für den Spaziergang mit dem Hund oder für einen Einkauf im Dorfladen musste sie sich ein elektrisches Seniorenmobil anschaffen.

Mirjam hat vor allem mit den Erschöpfungszuständen, der Belastungsintoleranz und Körperschmerzen zu kämpfen. Das Atmen fällt ihr schwer. Auch sie könne sich nie lange konzentrieren, vergesse viel und habe kognitive Prob­leme. Die Frau, die allein lebt, muss online einkaufen, weil der Gang in den Laden sie zu viel Kraft kos­tet. Das geliebte Musizieren in der Gruppe ist unmöglich geworden. Sie ist meist allein zu Hause.

Rückkehr in Arbeitsprozess nicht absehbar

Zu den Beschwerden kommt der Verlust der Arbeitsfähigkeit bei beiden. Patrizia war erfolgreiche Unternehmerin im Bereich Erwachsenenbildung. Darauf an­gesprochen, wird sie still und es kullern Tränen über ihre Wangen. Damit hadere sie am meisten. Sie hat ihre Arbeit geliebt, war viel in Kontakt mit Menschen, nahm aktiv am gesellschaftlichen und sozialen Leben teil. Heute lebt sie zurückgezogen und ist durch ihre Krankheit oft isoliert.

Auch Mirjam, die teilselbständig arbeitet, ist seit der Covid-­Erkrankung arbeitsunfähig. Aufgrund einer schweren Vorerkrankung und eines Unfalls, der sich vor Jahren ereignete, bezieht sie eine 50%­-IV- Rente. Eine IV-Revision sei derzeit im Gang. Finanziell komme sie über die Runden. Die Ungewissheit nage an ihr.

Hohe Kosten belasten zusätzlich

Patrizia wurde vor kurzem eine 100%-­IV-­Rente zugesprochen. Für viele Kosten im Zusammenhang mit der Erkrankung, u.a. für Me­dikamente, die helfen, aber von der Krankenkasse nicht bezahlt werden, musste sie ihr Erspartes anzapfen. Auch den E­-Scooter musste sie aus der eigenen Tasche bezahlen. Bis zu einem gewissen Punkt sei Erspartes ja für Krisenzeiten da. Aber: «Solange ich nicht wieder arbeiten kann, so lange kann ich auch nichts mehr auf die Seite legen. Das erzeugt zusätz­lichen Druck.»

Soziales Umfeld verändert sich

Als wäre die Krankheit mit ihren Symptomen nicht schon schwer genug, sehen sich die beiden auch mit Veränderungen im sozialen Umfeld konfrontiert. Patrizia: «Meine Familie ist eine grosse Hilfe und unterstützt mich, wo sie nur kann. Aber ich spüre auch, wie belastend es für sie ist», sagt Patrizia nachdenklich. Einige aus ihrem Umfeld hätten sich zurück­gezogen, weil sie mit der Situation nicht umgehen können. So erlebt es auch Mirjam: «Das Umfeld wird kleiner. Viele melden sich nicht mehr.»

Dafür hätten sich bei beiden andere Bekanntschaften aufgetan, vor allem innerhalb der Long­-Covid­-Community. Patrizia: «Ich treffe mich, wenn es meine Kraft zulässt, ab und zu über Zoom mit anderen Betroffenen. Wir tauschen uns aus, unterstützen uns, reden über Alltagsthemen. So, als würden sich Freundinnen zum Tee oder Kaf­fee treffen. Halt nur eben online.» Mirjam besucht hin und wieder eine Selbsthilfegruppe. Wichtig für sie sei auch die Facebook­-Gruppe «Long Covid Schweiz», die über 3'700 Mitglieder zählt.

Trost im Glauben

Beide Frauen glauben an Gott und finden Trost darin. Mirjam: «Na­türlich hadere ich manchmal. An schlechten Tagen sage ich dann zu Gott: «Es isch jetzt dänn emal guet!» Beide hätten sich aber nie die Frage gestellt: «Warum ich?». Patrizia: «Ich frage mich vielmehr, wozu es gut ist.» Ähnlich sieht es Mirjam: «Gott mutet mir nicht mehr zu, als ich tragen kann.»

Wichtiges Hilfsmittel: Pacing

Long Covid ist heute nicht heilbar, es gibt kein Medikament, keine Therapie. In den Rehas, die es mitt­lerweile für Long-­Covid-­Betroffe­ne gibt, wird vor allem vermittelt, dass man lernen muss, mit seinen Ressourcen umzugehen. Energiemanagement bzw. «Pacing» nennt sich das. «Ziel ist, stets unterhalb der eigenen Belastungsgrenze zu bleiben», erklärt Patrizia. Das sei nicht leicht. Mirjam: «Der Kopf würde gerne, aber der Körper sagt Nein. Und hält man sich mal nicht ans eigene Pacing, folgen deftige Tiefschläge, die Tage andauern können.»

Long­-Covid-­Betroffene müssen mit der Krankheit leben. Aber nicht nur das: Jede Folgeerkrankung, z. B. durch eine Grippe oder eine erneute Covid-Ansteckung, birgt die Gefahr, dass sich der Zustand anhaltend verschlechtert oder neue Symptome hinzukommen.

«Wir erwarten von der Politik, dass sie Long Covid ernst nimmt, ein Register führt und Mittel für die Erforschung der Krankheit bereitstellt.»
Mirjam und Patrizia

Forschung und Politik sind gefordert

«Die Schweiz zeigt sich sehr passiv, was die Forschung anbelangt. Da passiert gefühlt nichts», sagt Patrizia ernst. Sie findet auch klare Worte an die Adresse der Politik. «Man hält es bis heute nicht für notwendig, ein Register zu führen. Sie kümmert sich schlicht nicht um die Betroffenen.» Das sei auch wirtschaftlich ein fataler Feh­ler. «All die Menschen, die wegen Long Covid aus dem Arbeitsprozess fallen, kommen die Schweiz teuer zu stehen.»

Ignoranz hat einen Namen: Gaslighting

«Viele der Symptome sind auf kei­nem Röntgenbild oder Blutbild sichtbar», sagt Patrizia. Das mache es zusätzlich schwer.

Beide Frauen mussten schon erleben, dass man sie nicht ernst genommen oder ihre Symptome als nichtig abgetan hat. Dazu gehörte auch medizinisches Fachpersonal. Für dieses Negieren und Herunterspielen gibt es einen Begriff - nicht erst seit Covid: Gaslighting. Betroffene werden beschuldigt, zu simulieren oder nur zu faul zum Arbeiten zu sein.

Nicht verstehen müssen, aber ernst nehmen

Wie andere Krankheiten sieht man Long Covid einem Menschen nicht an, die Schilderungen über die Symptome sind für Gesunde oft nicht nachvollziehbar und surreal. Wir können es vielleicht nicht verstehen. Aber wir können den Be­troffenen dennoch verständnisvoll begegnen.

Bald beginnt die besinnliche Weihnachtszeit. Besinnen wir uns gerade jetzt auf die Werte dieser besonderen Zeit. Schreiben wir nicht leere Worthülsen auf Weihnachtsgrusskarten. Zeigen wir lieber echte Nächstenliebe und Fürsorge in unserem Verhalten im Alltag. Wir können es. Alle zusammen. Und jeder für sich.

* Zum Schutz der Privatsphäre haben wir die Namen geändert.

Quellen: Tages­-Anzeiger | cdc.gov | Long Covid Schweiz | medrxiv.org | medportal.ch

Barbara Tudor