Home Region Sport Schweiz/Ausland Magazin Agenda
Schweiz
09.01.2025

Aufarbeitung und Gerechtigkeit: Stefan Bischofs Kampf um Antworten

Stefan Bischof vor dem Staatsarchiv AR
Stefan Bischof vor dem Staatsarchiv AR Bild: zVg
Nach Jahren des Schweigens setzt sich Stefan Bischof (*1989) für die Aufarbeitung der Missstände im Schulheim Michlenberg in Rehetobel ein. Mit Unterlagen aus dem Ausserrhoder Staatsarchiv und klaren Forderungen an die Verantwortlichen kämpft der Goldacher für Gerechtigkeit – und dafür, dass kein Kind jemals das erleben muss, was er durchgemacht hat.

Im Alter von 13 Jahren wurde Stefan Bischof in die Klinik Sonnenhof Ganterschwil eingewiesen. Hier begann ein besonders dunkles Kapitel seiner Kindheit. Bischof erinnert sich: «Ich wurde körperlich und seelisch misshandelt. Die restriktiven Massnahmen, die dort angewendet wurden, waren oft entwürdigend.»

Der Mangel an individueller Betreuung und das Gefühl, allein gelassen zu sein, prägten ihn nachhaltig.

Nach einiger Zeit wurde Bischof ins Schulheim Michlenberg in Rehetobel verlegt, doch auch dort erlebte er Übergriffe. «Der Schulleiter hat mich körperlich und seelisch misshandelt», erinnert er sich. Um die Missstände zu dokumentieren, begann er, ein Tagebuch zu führen. Dieses wurde später zu einem wichtigen Beweisstück.

Mit anwaltlicher Unterstützung erlangte Stefan Bischof Zugang zu den Unterlagen aus dem Ausserrhoder Staatsarchiv, die die Administrativuntersuchung zum Schulheim Michlenberg dokumentieren.

Diese Berichte offenbaren gravierende Missstände, die auch andere Kinder betrafen.

«Der Bericht belegt strafrechtlich relevante Tätlichkeiten gegenüber anderen Kindern und beschreibt eine psychologische Einschätzung des Heimleiters, der als gewalttätig wahrgenommen wurde. Trotzdem wurde die Polizei nicht eingeschaltet», erklärt Bischof.

Weiter kritisiert er die mangelnde Aufsicht durch den Kanton: «Die Aufsichtspflicht wurde nicht wahrgenommen. Wäre sie ausgeführt worden, hätte es nie zu derartigen Eskalationen kommen dürfen.»

Bischof bemängelt zudem, dass seine Interaktionen mit der Aufsichtsstelle in den Berichten nicht thematisiert werden: «Ich habe nie wirklich eine Rückmeldung von der Aufsichtsstelle erhalten, obwohl ich versucht habe, mich an sie zu wenden. Das macht die Situation umso frustrierender.»

Die Untersuchung zeige auf, dass die Missstände dem Kanton bekannt waren. 

«Es ist schwer zu ertragen, dass die Verantwortlichen damals weggeschaut haben, obwohl sie genau wussten, was geschah», sagt Stefan Bischof.

Diese Erkenntnisse haben ihn in seinem Entschluss bestärkt, Antworten und Konsequenzen zu verlangen. «Ich möchte mit den Verantwortlichen des Kantons zusammensitzen», betont er.

Dabei geht es ihm um drei zentrale Fragen: Warum hat der Kanton seine Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen? Warum dauerte es so lange, bis die Missstände behoben wurden? Und: Werden die damals Verantwortlichen nun doch noch zur Rechenschaft gezogen?

Stefan Bischof betont, dass sein Anliegen nicht nur in der Aufarbeitung der Vergangenheit liegt, sondern vor allem in der Verhinderung zukünftiger Missstände.

«Es darf nie wieder passieren, dass Kinder und Jugendliche in einer solchen Umgebung leben und leiden müssen», sagt er. Er hofft, dass durch seine Bemühungen nicht nur für ihn persönlich, sondern für viele andere Betroffene eine Veränderung angestossen wird.

Trotz der traumatischen Erlebnisse hat Bischof bemerkenswerte Erfolge erzielt: Nach seiner Entlassung aus dem Heim besuchte er eine reguläre Schule, wurde Klassenbester und absolvierte eine Lehre als Polymechaniker. Später bildete er sich zum technischen Kaufmann und Betriebswirtschafter weiter.

Heute studiert er Betriebsökonomie an der Ostschweizer Fachhochschule, hat 2024 einen Bachelor erworben und arbeitet nun an seinem Master. «Ich wollte zeigen, dass ich mehr kann, als man mir zugetraut hat», sagt er.

Eine zentrale Botschaft in Bischofs Geschichte ist seine Kritik an den damaligen Verantwortlichen.

«Es ist schwer zu verstehen, dass einige der Personen, die für meinen Leidensweg mitverantwortlich sind, immer noch in sozialen Berufen tätig sind», sagt er. Für Stefan Bischof ist klar: Das System hat versagt. «Die Heimaufsicht war damals nicht in der Lage, die Kinder effektiv zu schützen. Vieles wurde einfach ignoriert oder vertuscht.» Das gelte für beide Heime – Ganterschwil und Rehetobel.

Bischof fordert, dass die Aufsicht über solche Institutionen unabhängig und transparent arbeitet, um sicherzustellen, dass solche Fehler nicht wiederholt werden. «Es muss endlich Konsequenzen geben.»

Theoretisch haben die Kantone eine Aufsichtspflicht über ihre sozialen Institutionen – diese sei aber weder in St.Gallen noch in Appenzell Ausserrhoden wahrgenommen worden. «Man hat sich an beiden Orten einfach darauf verlassen, was die Verantwortlichen behauptet haben – ohne die Insassen je einzubeziehen.»

Auch wenn Stefan Bischof heute äusserlich ein erfolgreiches Leben führt, sind die psychischen und physischen Folgen seiner Kindheit noch immer präsent. «Es gibt zu wenig spezialisierte Ärzte und Therapeuten, die sich mit den langfristigen Folgen von institutionellem Missbrauch auskennen», kritisiert er.

Die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt eine zusätzliche Belastung. Bischof bezieht denn auch aufgrund seiner traumatischen Erlebnisse eine IV-Rente.

Trotz der Herausforderungen blickt er optimistisch in die Zukunft und hofft, dass aus seiner Geschichte die richtigen Lehren gezogen werden.

«Ich wünsche mir, dass niemand mehr durchmachen muss, was ich erlebt habe», sagt er. Ebenso hofft er auf ein Einlenken beider Kantone, dass sie die Geschichten ihrer Kinder- und Jugendheime transparent aufarbeiten und den Betroffenen zumindest eine Entschuldigung, wenn nicht gar eine Entschädigung anbieten. 

Und: Er möchte, dass die Verantwortlichen, damit sind vor allem die Heimleiter und deren Vorgesetzten bei den Kanton Appenzell Ausserrhoden und St.Gallen, zur Verantwortung gezogen werden. «Mir geht es nicht um Rache. Aber ich möchte, dass die Leute für ihre Verfehlungen, die sie auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen abgezogen haben, geradestehen müssen.»

Stefan Bischofs Kampf ist nicht nur eine persönliche Mission, sondern auch ein Appell an die Gesellschaft, den Schutz von Kindern und Jugendlichen ernster zu nehmen und sie vor ähnlichem Leid zu bewahren.

stgallen24/stz.