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Schweiz
30.09.2024

«Ich möchte Ernst S. ein Gesicht geben»

Michael Krummenacher
Michael Krummenacher Bild: zVg
Am 24. Oktober kommt mit «Landesverräter» einer der meisterwarteten Schweizer Filme des Jahres ins Kino. Er schildert die wahre Geschichte des 1942 wegen Spionage zum Tod verurteilten St.Gallers Ernst S. Regisseur Michael Krummenacher spricht mit stgallen24 über die Herausforderungen, historische Genauigkeit und dramaturgische Freiheit zu vereinen und warum Ernsts Geschichte noch immer für die Schweiz von Bedeutung ist.

Michael Krummenacher, der «Landesverräter» spielt während des Zweiten Weltkriegs. Was hat Sie dazu bewogen, die Geschichte von Ernst S. filmisch umzusetzen?
«Landesverräter» hat mich von der ersten Idee über die Recherche bis jetzt zum fertigen Film über viele Jahre beschäftigt. Als ich damit angefangen habe, war ich selbst ungefähr so alt wie Ernst, als er hingerichtet wurde. Dass an einem so jungen Menschen ein Exempel statuiert wurde, ist per se tragisch. In seinem Fall kommt aber dazu, dass er förmlich ausgelöscht wurde: Er musste namenlos bestattet werden, einzelne Familienmitglieder haben ihren Nachnamen geändert, weil die Scham so gross war – und seine Geschichte findet keinerlei Widerhall in der landläufig bekannten Schweizer Geschichte. So erwuchs in mir der Wunsch, Ernst ein Gesicht zu geben.

Ernst S. scheint eine eher gutgläubige Figur zu sein. Wie haben Sie diese Naivität im Film dargestellt, ohne die Person zu verurteilen, und wie wichtig war es Ihnen, Ernst S. als Menschen zu zeigen, der nicht bewusst handelt?
Ich habe mich der persönlichen Figur Ernst vorwiegend über die Briefe genähert, die sich in seiner Gerichtsakte finden. Das sind sowohl private Briefe als auch welche an den Richter oder seinen Vormund, in denen er sich zu erklären versucht. Diese Briefe sind erstaunlich eloquent formuliert für jemanden, der kaum Schulbildung geniessen konnte – sie zeichnen aber auch das Bild eines jungen Mannes, der sich durch die starke Sehnsucht nach einem besseren Leben von verschiedenen Seiten hat instrumentalisieren lassen. Naiv würde ich ihn darin gar nicht unbedingt nennen; vieles, was er schreibt, ist sehr reflektiert und selbstkritisch. Auf der anderen Seite aber auch schwärmerisch und mit einem Hang zu dramatischen, ja fast theatralen Formulierungen. Für mich ist Ernst eine zerrissene, ambivalente Figur, die versucht hat, in einer schwierigen Zeit ihren eigenen Weg zu finden, dabei aber in die Mühlen einer grösseren Erzählung geraten ist.

« Bei meinen Recherchen war ich schockiert darüber, wie ungestört und offiziell die Nazis in der Schweiz wirken konnten. »

Inwiefern war seine Ambivalenz in Bezug auf die politischen Umstände seiner Zeit entscheidend für den Verlauf der Ereignisse im Film? War er ein Einzelfall oder hatte die Methode der Nazis System, Gernegrosse oder Plaudertaschen anzuwerben?
Bei meinen Recherchen war ich schockiert darüber, wie ungestört und offiziell die Nazis in der Schweiz wirken konnten. Nicht nur, dass es unter anderem in St.Gallen eine «Ortsgruppe der NSDAP» gab, auch die anderen Organe waren populär vertreten: Es gab eine Hitlerjugend Zürich oder den «Bund Deutscher Mädel». Insofern hatte es sicherlich System, neue Mitglieder anzuwerben – und Veranstaltungen wie «Eintopfessen» in St.Gallen deuten stark darauf hin, dass auch Menschen aus armen Verhältnissen – wie Ernst – damit geködert werden sollten. Dadurch, dass das alles überhaupt kein Thema im Geschichtsunterricht war, kamen mir die Fotos dieser Anlässe – Dutzende ausgestreckte Hände, grosse Hakenkreuzflaggen – fast schon surreal vor. Umso wichtiger finde ich es, dass der Film diese Seite der Schweizer Geschichte auch zeigt.

Wie haben Sie die Balance gefunden zwischen historischer Genauigkeit und der dramaturgischen Freiheit, die Sie als Regisseur hatten, um die Geschichte zu erzählen?
Fast jeder Film, der sich mit einer wahren Geschichte auseinandersetzt, stösst auf ähnliche Probleme: Das Leben einer realen Figur kann unheimlich komplex sein, dazu kommt der komplizierte historische und moralische Kontext. Da muss man erst einmal einen Weg finden, um darin die Geschichte zu finden, die man erzählen will. Dabei muss man fast zwangsläufig von der wahren Geschichte abweichen: Man legt mehrere Personen zu einer Figur zusammen oder man interpretiert einzelne Sachverhalte, die nur undeutlich überliefert sind. Meine Massgabe war immer, dem Menschen Ernst treu zu bleiben und seine persönliche Geschichte zu erzählen – und nicht Geschichtsunterricht zu erteilen. Wissend, dass meine Sicht auf Ernst natürlich auch schon eine persönliche Interpretation ist, die ich aus den verfügbaren Quellen abgeleitet habe.

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Welche historischen Quellen waren besonders einflussreich für Drehbuch und Regie?
Das Kernstück der Recherche war die Akte des Militärgerichts. Diese ist sehr umfangreich, sodass ich beeindruckt war, wie viel Niklaus Meienberg damals für seinen Text aus seiner sehr kurzen, fragmentarischen Einsicht überhaupt alles ableiten konnte. In der Akte finden sich neben sämtlichen Gerichtsprotokollen auch die Karten, die Ernst gezeichnet hat und wie erwähnt auch eine ganze Menge Briefe, die Einblick in Ernsts Seelenleben geben. Nach und nach hat sich die Recherche dann ausgeweitet; ich habe sogar einen Mann kennengelernt, der bei einer der Exekutionen (nicht Ernsts) als Soldat dabei war. Es hat mich sehr berührt zu sehen, wie ihn diese aufgezwungene Tat ihn bis in sein hohes Alter beschäftigt hat: Es wurde ihnen als Soldaten nicht gesagt, was der Hinzurichtende verbrochen hatte, sie wurden einfach in den Wald gefahren, mussten ihn erschiessen und wurden wieder weggebracht. Für die zeitliche Einordnung und um ein Bild von St.Gallen zu der Zeit zu bekommen, hat uns der ehemalige St.Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler sehr geholfen – auch mit Fotos, die wiederum später für die Ausstattung wichtig wurden.

Im «Landesverräter» spielt die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs eine besondere Rolle. Wie haben Sie die schweizerische Neutralität und ihre moralischen Dilemmata in dieser Zeit im Film verarbeitet?
Die Geschichte von Ernst ist nicht ohne die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg denkbar. Und in Ernsts Geschichte spiegelt sich gewissermassen auch das Dilemma der offiziellen Schweiz wider: Beide strebten nach Unabhängigkeit und dem Wunsch, den Krieg unbeschadet zu überstehen oder ihn gar zu ihrem Vorteil zu nutzen. Und sowohl die offizielle Schweiz als auch Ernst sind dafür auf die ein oder andere Weise einen Pakt mit den Nationalsozialisten eingegangen.

Ich sehe das aber nicht als historisches, abgeschlossenes Phänomen, sondern vielmehr hat sich damals ein Handlungsmuster der Schweiz ausgebildet, das immer noch Bestand hat: Vorgeblich unter der Massgabe der Neutralität werden Entscheidungen getroffen und Geschäfte gemacht, die meiner Meinung nach nur bedingt mit Neutralität oder einer solidarischen Haltung zur internationalen Gemeinschaft vereinbar sind. So finde ich es etwa absolut unhaltbar, dass über zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs immer noch Waffenlieferungen an die Ukraine blockiert werden – während man sehenden Auges hinnimmt, dass russische Oligarchen ihre Milliarden auf Schweizer Konten verschieben, um Sanktionen zu umgehen.

«Seine Geschichte findet keinerlei Widerhall in der landläufig bekannten Schweizer Geschichte.»

Was erhoffen Sie sich von der Reaktion des Publikums auf den Film, gerade in Bezug auf die historische Bedeutung der Geschichte von Ernst S. für die Schweiz – seine Familie wurde noch lange nach dem Ereignis in Gaiserwald und darüber hinaus geächtet?
Ich hoffe, dass die Geschichte von Ernst Schrämli – er wird bei uns bewusst mit seinem vollen Namen genannt – eine breitere Wahrnehmung erfährt. Gerade in meiner oder noch jüngeren Generationen ist sein Schicksal – und die damit zusammenhängenden Geschäfte der Schweiz – überhaupt kein Begriff. Und natürlich würde ich mir wünschen, dass der Film es schafft, eine Auseinandersetzung anzustossen, die es vielleicht ermöglicht, dass Ernst sein Gesicht zurückbekommt, das ihm vor über 80 Jahren genommen wurde.

Heute ist man sich wohl einig, dass das Todesurteil gegen Ernst S. zu hart war. Im geschichtlichen Kontext – die Angst vor den Nazis war allgegenwärtig – ist aber auch zu verstehen, dass Volk und Politik damals hinter der Entscheidung standen, oder?
Die Granaten, die Ernst für den deutschen Spion gestohlen hat, wurden schon lange vorher an die Nazis verkauft und waren ihnen dadurch hinlänglich bekannt. Das Urteil gegen Ernst Schrämli ist aus heutiger Sicht rein juristisch im Sinne der militärischen Geheimhaltungspflicht also nicht haltbar.

Grundsätzlich verstehe ich natürlich den Impuls eines kleinen Landes, das umzingelt dasteht, seine Integrität zu wahren und sich und seine Bevölkerung zu schützen. Das moralische Urteil über das tatsächliche Verhalten der Schweiz sollte sich aber jeder selbst bilden: Nicht nur kommt der Bergier-Bericht zum Schluss, dass die rapide militärische Aufrüstung Deutschlands (und damit der überraschende Blitzkrieg) ohne in der Schweiz ansässige Rüstungsfirmen gar nicht möglich gewesen wäre – auch nach Kriegsbeginn gingen über 90 Prozent der Schweizer Rüstungsexporte an die Achsenmächte, bis zum Kriegsende. Von Bankengeschäften und Raubkunst ganz zu schweigen. Es gab also ganz klare Tendenzen, die sich in den wirtschaftlichen Beziehungen offenbaren. Der tragische Unterschied zur Geschichte von Ernst: Die grossen Verdiener kamen ungeschoren davon, während Ernst als Bauernopfer exekutiert wurde.

«Die grossen Verdiener kamen ungeschoren davon, während Ernst als Bauernopfer exekutiert wurde.»

Zum Schluss: Wie viel St.Gallen steckt im Film «Landesverräter»?
Die Stadt St.Gallen und das Umland sind ein wichtiger Teil der echten Geschichte von Ernst Schrämli; es war uns wichtig, das im Film abzubilden. Ein historisches Stadtbild heute nachzubilden, ist sehr aufwendig; oftmals muss man dafür Entsprechungen finden, weil sich die echten Orte zu sehr verändert haben oder durch moderne Ladengeschäfte und zu viele Passanten schwer zu kontrollieren sind. Deswegen haben wir etwa die Strassenszenen nicht in St.Gallen, sondern im kleineren Lichtensteig gedreht. Es gibt aber auch Schauplätze, bei denen es uns gelungen ist, dass die Fiktion auf immer noch existierende Orte trifft. Die Sitter mit ihrem eindrucksvollen Viadukt beispielsweise. Und vor allem natürlich der St.Galler Gerichtssaal, in dem damals tatsächlich die Verhandlung des Militärgerichts stattgefunden hat. Es war ein mulmiges Gefühl, Dimitri Krebs in seiner Militäruniform als Ernst dort stehen zu sehen.

«Ich hoffe, dass die Geschichte von Ernst Schrämli – er wird bei uns bewusst mit seinem vollen Namen genannt – eine breitere Wahrnehmung erfährt. »

Filmregisseur und Drehbuchautor Michael Krummenacher (*1985 in Schwyz) studierte nach der Matura an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München, wo er seine ersten Kurzfilme realisierte. Sein Abschlussfilm «Sibylle» (2015) wurde auf internationalen Festivals gezeigt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Krummenachers Durchbruch kam im selben Jahr mit dem Film «Heimatland», einem Episodenfilm, den er gemeinsam mit neun anderen Regisseuren inszenierte. Der Film thematisiert die politische und gesellschaftliche Situation in der Schweiz und wurde auf dem Locarno Film Festival uraufgeführt. «Heimatland» gewann unter anderem den Zürcher Filmpreis und war für den Schweizer Filmpreis nominiert.

Michael Krummenacher ist auch für seine Arbeit im deutschen Fernsehen bekannt; sein ZDF-Dreiteiler «Preis der Freiheit» wurde 2020 mit drei Deutschen Fernsehpreisen ausgezeichnet; 2022 drehte er seinen ersten «Tatort».

2024 bringt er mit «Landesverräter» einen der meisterwarteten Schweizer Filme des Jahres in die Kinos. Der Film basiert auf der wahren Geschichte des St.Gallers Ernst Schrämli, der während des Zweiten Weltkriegs wegen Spionage zum Tode verurteilt wurde.

Krummenacher lebt und arbeitet in München. Seine Filme zeichnen sich durch tiefgründige Charakterstudien und eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Themen aus.

Stephan Ziegler, stgallen24.ch